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Standpunkt Andrea Wanner: zusammen stark

Das Dreiecksverhältnis zwischen Bewohnenden, Betreuungspersonen und Angehörigen lebt von gegenseitigem Respekt und Vertrauen. Wie wertvoll dieses Gleichgewicht ist, weiss ich aus eigener Erfahrung als Angehörige.

Seit meine Mutter die Diagnose Alzheimer erhielt, lebt sie in einer Wohngruppe im Simmental. Ein Haus, das zu ihr als ehemalige Bäuerin passt, da es ihr ein Gefühl der Geborgenheit gibt. Wir hatten diesen Ort bewusst ausgewählt – trotz der Distanz. Und mir wurde bewusst, was viele Familien unserer Bewohnenden durchleben: einen emotionalen Spagat zwischen Loslassen und Dasein, zwischen Vertrauen in die Fachpersonen und dem Bedürfnis, Einfluss zu nehmen und zu schützen. Dank meiner langjährigen Erfahrung in der Langzeitpflege kann ich damit aber sehr gut umgehen.

Als meine Mutter kürzlich zweimal schwer stürzte, wurde mir dann aber schlagartig klar: Jetzt bin ich nicht mehr Andrea Wanner, die Geschäftsführerin von Viva Luzern, sondern einfach nur noch Andrea, die Tochter – mit all den damit verbundenen Emotionen und Ängsten. Gemeinsam mit meinen Schwestern und der Pflegeleitung entschieden wir, dass es kein MRI mehr geben sollte, keinen Spitalaufenthalt. Eine allfällige Hirnblutung könnte zum Tod führen. Eine schmerzliche Erkenntnis, dass die Mutter bald gehen wird. Das schüttelt dich durch. Egal, wie viel Know-how du hast – letztlich ist man dann einfach nur Mensch.

Eine Begegnung auf Augenhöhe. Eine solche Begegnung auf Augenhöhe ist keine Selbstverständlichkeit. Noch vor einigen Jahren wurde die aktive Beteiligung von Angehörigen manchmal eher als Einmischung oder gar Kontrolle empfunden. Zum Glück hat sich diese Haltung gewandelt – auch bei Viva Luzern. Heute sehen wir Angehörige als unverzichtbare Partner an. Denn meist verfügen sie über ein enorm wertvolles Wissen: Sie können uns erzählen, wie jemand aufgewachsen ist, was die Person gerne zum Frühstück isst, welche Musik sie beruhigt oder welche Rituale ihr Sicherheit geben. So übernehmen die Angehörigen eine zentrale Rolle in der Betreuung und Pflege.

In der Praxis zeigt sich allerdings, wie vielfältig das Engagement ausfallen kann: von der seltenen Besucherin bis zum aktiven Mitgestalter des Alltags. Diese unterschiedlichen Ausprägungen zu respektieren und gleichzeitig das Wohl der Bewohnenden zu wahren, ist eine tägliche Herausforderung für unsere Teams. Es braucht Mitarbeitende, die das Wissen der Familien aktiv einfordern und nutzen, Angehörige, die auf unsere fachliche Expertise vertrauen, und Bewohnende, die sich ihrer Selbstbestimmung bewusst sind. Wir wollen nicht über ihre Köpfe hinweg entscheiden.

Wo unterschiedliche Erwartungen aufeinandertreffen
Unterschiedliche Sichtweisen zwischen den Beteiligten erleben wir immer wieder. Ein Beispiel: Eine Tochter möchte, dass ihr Vater täglich geduscht wird und stets gepflegt aussieht, während dieser es vorzieht, nur zweimal pro Woche zu duschen. Die Kunst besteht darin, zu vermitteln und gemeinsam Lösungen zu finden. Oft schwingt hier auch ein schlechtes Gewissen der Angehörigen mit – oder Unsicherheit. Bei der Betreuung von Menschen mit Demenz geht es beispielsweise oft darum, verständlich zu erklären, warum eine geschlossene Demenzabteilung mehr Sicherheit bietet und zur Lebensqualität beiträgt. Wie so oft ist Kommunikation der Weg zur Lösung: Klare Gespräche und gegenseitiges Zuhören bilden die Basis für Vertrauen.

Angehörigenarbeit im gesellschaftlichen Wandel
Viva Luzern versteht sich aber nicht nur als Alterszentrum, sondern auch als Sparringspartnerin für betreuende Angehörige. Aktuell leisten schätzungsweise 600 000 Menschen in der Schweiz Care-Arbeit im Wert von rund 3,7 Milliarden Franken. Einige dieser Betreuungspersonen gehören zur Gruppe der «aktiven Senioren» – selbst im Pensionsalter, aber noch fit genug, um die älteren Familienmitglieder zu unterstützen. Andere leisten diese Care-Arbeit neben Beruf und Familie, was sie oft an ihre Grenzen bringt. Um hier zu helfen, bietet Viva Luzern neben Beratung und Know-how auch Entlastungsangebote wie zum Beispiel Temporär- oder Ferienaufenthalte.

Gleichzeitig stellt uns auch die zunehmende Versingelung vor neue Herausforderungen. Kürzlich lernte ich eine alleinstehende Dame kennen, die – unverheiratet und kinderlos – nun allein vor der Entscheidung stand, ins Viva Luzern Rosenberg einzuziehen. Sie offenbarte mir, wie einsam sie sich bei diesem Entscheid fühle. Im persönlichen Gespräch konnte ich ihr aber einen anderen Blickwinkel aufzeigen: Der Vorteil ihrer Situation sei, dass sie selbstbestimmt darüber entscheiden könne – ohne ein vorausgehendes Ereignis wie eine Krankheit oder einen Unfall, das sie zum Umzug zwingen würde.

Gemeinsam in die Zukunft
Aus all diesen Erfahrungen – persönlichen wie beruflichen – erwachsen drei konkrete Wünsche für die Zukunft: Erstens wünsche ich mir, dass sich mehr Menschen frühzeitig mit dem Leben im Alter auseinandersetzen – emotional und finanziell. Die Finanzierung eines Heimaufenthalts ist komplex. Beratungsstellen wie Pro Senectute, Vicino oder Luzern 60plus bieten wertvolle Hilfestellungen. Zweitens ermutige ich dazu, sich mit dem eigenen Lebensende zu befassen. Die Themen Patientenverfügung, Testament oder Vorsorgeauftrag sind unangenehm, entlasten aber nicht nur einen selbst, sondern auch die Familie und uns als Institution. Und drittens lade ich alle Angehörigen ein, unsere geselligen Anlässe – siehe vivaluzern.ch/ aktuell/veranstaltungen – zu besuchen. Denn wer selbst erlebt, wie viel Freude die Bewohnenden in diesen Momenten haben, verliert die Angst vor dem Alter und gewinnt Vertrauen. Letztlich geht es darum, dass wir die Sorge und Fürsorge für einen geliebten Menschen teilen. Die Sorge können wir vielleicht nicht ganz abnehmen, aber gemeinsam können wir sie besser tragen. Zum Wohle aller Beteiligten.

Andrea Wanner, Geschäftsführerin Viva Luzern