
Ein Konzert ohne Barrieren: Klassik hautnah
Beim Sonntagnachmittagskonzert anlässlich des 10-Jahr-Jubiläums von Viva Luzern spielt das Rosenquartett im Viva Luzern Dreilinden auf. Offensichtlich ist: Klassik trifft mitten ins Herz. Auch jene, die sonst anderen Genres zugetan sind. Es wird nicht nur gelauscht, sondern auch rege ausgetauscht.
«Musik muss man live erleben. Es ist bei Weitem nicht dasselbe, wenn man sie ab einem Tonträger hört», so die Worte von Marianne Steinmann (83 Jahre). Ihre Aussage kommt nicht von ungefähr. Sie machte ihren Abschluss in Geige am Konservatorium und hat die Musik im Blut. Um Musik zu erleben, sind die rund 60 Bewohnerinnen und Bewohner im Foyer Rigi. Bereits Minuten vor Konzertbeginn sitzen sie auf ihren Plätzen. Dem Anlass entsprechend festlich gekleidet, das Haar sorgfältig frisiert, gar mit passendem Nagellack zum Blazer. Da und dort sind leise Gespräche zu vernehmen. Ein Stuhlbein, das über den Boden scharrt. All das begleitet von vorfreudiger Erwartung. Dieser Sonntag zeigt sich grau. Es nieselt und ein bissiger Wind zerrt an den Kleidern. Ein idealer Tag also, um der Musik zu frönen. Aufspielen wird das Rosenquartett, ein Ensemble des Luzerner Sinfonieorchesters.

Keine Bühne, keine Distanz
Auf die Minute genau betreten die Musikerinnen und Musiker den Raum und damit die Bühne, die keine ist. Da ist keine Distanz zwischen Publikum und Künstlern. «Das ist es, was wir an diesen Konzerten so schätzen. Damit geht eine Nähe einher, die uns berührt und verdeutlicht, warum wir unseren Beruf gewählt haben», sagt Madeleine Burkhalter. Das Format «Stationskonzerte» ist ihr Herzensprojekt. Sie hat es initiiert, um klassische Musik dorthin zu bringen, wo Menschen leben, die nicht mehr in die Konzertsäle gehen können. Was als ihre Idee keimte, gedeiht heute unter dem Dach des Luzerner Sinfonieorchesters. «Wer bei diesen Konzerten mitspielt, tut dies in erster Linie aus Liebe zur Musik und zu den Menschen», so Burkhalter. Das heutige Konzert steht unter der Flagge des 10-Jahr-Jubiläums von Viva Luzern. Es ist Teil einer Konzertreihe, die Viva Luzern allen zur Organisation gehörenden Häusern offeriert.


Immer im Dialog
Das Konzert beginnt: Keiko Yamaguchi hebt ihre Violine, David Desimpelaere legt den Bogen an die Saiten seines Kontrabasses, Rosario Conte nimmt seine Theorbe zur Hand, Madeleine Burkhalter legt die Bratsche an. Dann schweben die Klänge des Quartetts durch das Rigi-Foyer. Selbst Mitarbeitende halten einen Moment inne, um zu lauschen. Der letzte Ton des ersten Stücks ist gespielt. Madeleine Burkhalter ergreift das Wort, begrüsst das Publikum. Sie entführt einen unmittelbar auf eine musikalische Reise, die heute in die Barockzeit gehen wird. Nicht ohne vorher die Musikerinnen und Musiker sowie ihre Instrumente vorzustellen. Die Theorbe weckt immer viel Aufmerksamkeit – durch ihre Form und ihren Klang. «Ich erinnere mich an einen besonderen Moment. Es war an einem anderen Konzert in einem Haus von Viva Luzern. Mitten in einem Stück erhob sich ein Bewohner, schritt zu Rosario Conte und betrachtete das Instrument haargenau.» Es sei eben genau diese Unmittelbarkeit und das Unvorhergesehene, welche diese Konzerte zu etwas Besonderem machen würden. «Wir müssen flexibel sein und mit den Menschen interagieren können.» Was alle vier Personen des Ensembles in Perfektion beherrschen. Der Dialog mit den Besuchenden reisst nie ab. Madeleine Burkhalter führt so virtuos durchs Programm, wie sie die Bratsche spielt. Sie erzählt zu jeder Interpretation, zu jedem Komponisten eine Geschichte, lädt die Zuhörenden ein, ihr eigenes Wissen zu teilen. Und öffnet damit die Tür zum nächsten Stück, sodass selbst Menschen, die keinen grossen Zugang zur Klassik haben, gebannt zuhören.
Musik erreicht Menschen
Manche lauschen in absoluter Stille, mit geschlossenen Augen. Andere bewegen ihre Köpfe im Takt. Auch Marianne Steinmann gibt sich der Musik hin. Sie würdigt die Qualität, die ihr hier geboten wird, und ist dankbar für dieses Jubiläumsgeschenk: «Ich weiss, wie viel Herzblut und Disziplin hinter diesem Können steckt. Das sind durch und durch Profis, die für ihre Musik leben.» Aus den hinteren Reihen beobachtet Maria Thalmann die Szenerie. «Es ist schön zu sehen, wie Musik die Menschen berührt», sagt sie. Gerade bei Menschen mit Demenz stelle sie fest, dass solche, die sonst in einer Starre seien, auf einmal Gefühlsregungen zeigen würden. Bei Viva Luzern ist Musik wichtig. Das Jubiläumskonzert ist nicht das einzige, das gespielt wird. Man will den Bewohnenden Abwechslung bieten. Einmal im Monat findet im Viva Luzern Dreilinden ein Sonntagnachmittagskonzert statt. Auch unter der Woche gibt es musikalische Darbietungen, und freitags wird gemeinsam gesungen. Das Programm reicht von Jazz und Ländlermusik bis zur Klassik. Madeleine Burkhalter vom Rosenquartett begrüsst dieses musikalische Engagement; nicht etwa aus Eigeninteresse. «Der positive Effekt der Musik ist klar spürbar. Bei Menschen mit Demenz beispielsweise ist das musikalische Langzeitgedächtnis nur gering betroffen. Musik gelangt dahin, wo Worte nicht mehr ankommen», freut sie sich. Während der Kurzkonzerte auf den Wohnbereichen stelle sie oft fest, dass Bewohnende, die der klassischen Musik erst skeptisch gegenüberstünden, zu Liebhabern mutieren. «Wir wählen Stücke, die bekannt sind. Etwa ein Largo von Georg Friedrich Händel, der erste Satz aus der kleinen Nachtmusik … Dadurch schaffen wir einen leichten Zugang zur Musik», erklärt Madeleine Burkhalter.
Ein Schlussakkord, der bleibt
Oder es wird, so wie heute, eine Reise durch die Barockmusik, mit einem kleinen Schwenker nach Ungarn. Bereits kündigt sie das letzte Stück an: die Aria Sopra la Bergamasca von Marco Uccellini. «Ein Stück, das vielleicht die Sonne hinter den Wolken hervorlocken wird», so Burkhalter. Der letzte Ton verklingt … Applaus setzt ein. Maria Thalmann tritt vor, spricht Dankesworte und lädt alle Anwesenden ein: zu Kaffee, Kuchen und – ganz dem Jubiläum würdig – einem Cüpli, um gemeinsam auf die runde Zahl anzustossen. Die Musikerinnen und Musiker mischen sich unters Publikum. «Für uns eine Selbstverständlichkeit. Wir suchen den Austausch, sind für Fragen offen und hören spannende Geschichten», sagt Madeleine Burkhalter. Nach und nach leert sich das Foyer Rigi. Ein Blick nach draussen zeigt, die Sonne strahlt noch nicht vom Himmel. Doch die unzähligen «Danke und es war so schön» der Besuchenden zeigen: Die Musik hat sich ins Herz geschlichen und da die Sonne scheinen lassen. Oder um mit den Worten von Marianne Steinmann zu schliessen: «Ich habe manch grosses Konzert gehört, das mit weniger Herzblut gespielt wurde als das, was wir heute dargeboten bekamen.»

Ein Jubiläum im Zeichen der Musik
Neben dem Sinfonieorchester bringt auch die MusikSpitex Bewohnenden von Viva Luzern den Genuss von Musik näher. Damit möglichst alle Bewohnenden bei Viva Luzern in den Genuss der Klänge kommen. Bis Ende Jahr spielt die MusikSpitex in allen Alterszentren von Viva Luzern persönliche Wunschkonzerte für Menschen mit Betreuungs- und Pflegebedarf. Möglich gemacht hat dies eine grosszügige Spende der Brockenhausgesellschaft Luzern. MusikSpitex ist ein Non-Profit-Projekt des Vereins cassiopeia an der Schnittstelle von Sozialund Gesundheitswesen. Es fördert die soziale und kulturelle Inklusion von Menschen in Pflegesituationen. Dabei bieten professionelle Musikerinnen und Musiker persönliche Konzerte für pflegebedürftige Menschen – ob jung oder alt, zu Hause oder im Alterszentrum. Diese Konzerte bringen Musik direkt zum Menschen – mit neuen Klängen, Instrumenten und zum Mitmachen.