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Wenn Eltern älter werden

In vielen Familien kommt der Punkt, an dem die erwachsenen Kinder vor schwierigen Entscheidungen stehen: Wie unterstütze ich meine hochaltrigen Eltern, ohne sie zu bevormunden? Wann ist Zeit, Hilfe von aussen zu holen? Und wie geht man mit Schuldgefühlen um? Dr. Bettina Ugolini von der Universität Zürich liefert Antworten.

Lange scheint alles beim Alten zu bleiben. Die Eltern sind selbstständig, treffen ihre Entscheidungen und gehen ihrem gewohnten Alltag nach. Sie erledigen den Einkauf, fahren mit dem Auto zum Arzt und haben ihr Leben im Griff. Doch dann schleichen sich Veränderungen ein – oft kaum merklich, manchmal zunächst nur als vages Gefühl. Erst sind es vergessene Termine oder ein nicht bezahlter Rechnungsstapel auf dem Küchentisch. Der Kühlschrank bleibt auffallend leer, weil das Einkaufen zu mühsam wird. Beim Spaziergang wirkt der Vater plötzlich unsicher auf den Beinen, oder die Mutter meidet es, Treppen zu steigen. Angehörige bemerken diese kleinen Veränderungen, sind sich aber oft unsicher: Ist das nur ein Zeichen des normalen Alterns oder steckt mehr dahinter? Wann ist der richtige Moment, das Gespräch zu suchen, ohne dass es als Bevormundung empfunden wird? Und wie kann man helfen, ohne dabei die vertrauten Rollenverhältnisse auf den Kopf zu stellen?

Dr. Bettina Ugolini kennt diese Fragen und die damit verbundenen Herausforderungen nicht nur aus ihrer wissenschaftlichen Arbeit, sondern auch aus eigener Erfahrung. Bevor sich die Leiterin der psychologischen Beratungsstelle «Leben im Alter» der Universität Zürich der Beratung und Lehre widmete, arbeitete die gelernte Pflegefachfrau viele Jahre im Pflegebereich. Heute ist die promovierte Psychologin auch privat eine «betreuende Angehörige auf Distanz», wie sie es selbst nennt. Bettina Ugolini weiss also, wovon sie spricht – und sie weiss auch, wie anspruchsvoll diese Aufgabe sein kann.

Nicht zu früh, nicht zu spät
Gerade weil die Angehörigenpflege so fordernd ist, stehen viele vor der Frage, wann der richtige Zeitpunkt für Unterstützung gekommen ist. «Oft merken Angehörige, dass ihre Eltern im Alltag an Grenzen stossen – doch gleichzeitig möchten sie ihnen nicht zu früh ihre Selbstständigkeit absprechen», erklärt Ugolini. Die Herausforderung liege darin, den richtigen Moment zu finden – nicht zu früh, aber auch nicht zu spät.

Oft geht es in der Angehörigenpflege nicht nur um praktische Fragen, sondern auch um tief verwurzelte Emotionen: Angst vor dem Verlust der Selbstständigkeit, das Gefühl, anderen zur Last zu fallen, oder die Sorge, nicht mehr selbstbestimmt leben zu können. Hier ist die Art der Kommunikation entscheidend. «Die wichtigste Voraussetzung für eine gelingende Angehörigenpflege ist, dass die Gespräche jederzeit auf Augenhöhe stattfinden», sagt Bettina Ugolini. Wer mit klaren Anweisungen kommt – «Du kannst nicht mehr allein wohnen» oder «Du musst den Vorsorgeauftrag regeln» –, löst oft Widerstand aus. Stattdessen empfiehlt sie, Gespräche als offenen Austausch zu gestalten: «Was wäre dir wichtig, wenn sich deine Situation verändert?» oder «Wie stellst du dir deinen Alltag in fünf Jahren vor?» Dabei sei es auch wichtig, wie das Gespräch geführt wird.

Das Wichtigste in Kürze

  • Frühzeitig über Wünsche und Erwartungen sprechen – am besten, bevor es eine akute Krise gibt.
  • Hilfe annehmen ist kein Versagen – sondern eine verantwortungsvolle Entscheidung für alle Beteiligten.
  • Kommunikation auf Augenhöhe – damit Angehörige, Pflegekräfte und Bewohnende gemeinsam gute Lösungen finden.

Dr. Bettina Ugolini, Leiterin Beratungsstelle Leben im Alter, Universität Zürich.

Wie entscheidend der Zeitpunkt und die Gesprächssituation sein können, zeigt folgendes fiktives Beispiel: Ein Sohn möchte mit seiner 85-jährigen Mutter über ihre Wohnsituation sprechen. Ohne grosse Vorbereitung spricht er sie spontan darauf an, während sie gerade mit dem Kochen beschäftigt ist. Die Mutter reagiert gereizt und blockt das Gespräch sofort ab. Später, in einer ruhigen Atmosphäre und mit mehr Zeit, nimmt der Sohn das Thema erneut auf – diesmal ohne Druck, sondern mit offenen Fragen zu ihren Wünschen und Vorstellungen. In dieser entspannteren Situation ist die Mutter bereit, über Unterstützungsmöglichkeiten nachzudenken. «Geduld und der richtige Zeitpunkt sind entscheidend», so Ugolini. Wenn Eltern spüren, dass ihre Meinung ernst genommen wird, steigt die Bereitschaft, sich auf Veränderungen einzulassen.

Zwischen Anspruch und Realität: Angehörigenarbeit in Alterszentren

Die Zusammenarbeit mit Angehörigen ist für Alterszentren essenziell – kann aber auch herausfordernd sein. «Angehörige sind oft stark involviert und haben klare Erwartungen an die Betreuung ihrer Liebsten», erklärt Dr. Bettina Ugolini. «Wenn ihre Vorstellungen nicht mit den Abläufen in der Institution übereinstimmen, entstehen schnell Spannungen.»

Besonders häufig gibt es Missverständnisse in der Kommunikation. Angehörige fühlen sich nicht ausreichend informiert oder haben das Gefühl, mit ihren Anliegen nicht ernst genommen zu werden. Ugolini betont, wie wichtig es ist, klare Strukturen zu schaffen. «Es braucht definierte Ansprechpersonen und feste Formate für den Austausch – sei es durch regelmässige Angehörigengespräche, Informationsveranstaltungen oder transparente Beschwerdekanäle.»

Angehörige sollten nicht nur als Besucher, sondern als Partner im Betreuungsprozess gesehen werden, rät Bettina Ugolini. «Wenn Alterszentren Angehörige aktiv einbeziehen, profitieren am Ende alle – die Bewohnenden, die Angehörigen und das Pflegepersonal», so Ugolini.

Keine Umkehr der Beziehung
Oft ist im Zusammenhang mit der Angehörigenpflege von einer «Umkehr der Beziehung» die Rede – also davon, dass die Kinder nun in die Elternrolle schlüpfen und die Eltern zu den Kindern werden. Diesen Begriff lehnt Ugolini ab. «Wir werden nicht Eltern unserer Eltern – und sie werden nicht unsere Kinder», stellt sie klar. Was sich verändert, sind nicht die Rollen, sondern die Umstände. Über eine lange Phase des Lebens hinweg sind es die Eltern, die ihre Kinder unterstützen, und das oft weit über die Kindheit hinaus – sei es durch monetäre Hilfe oder indem sie die Enkelkinder betreuen. Dann kann es je nach Alterungsprozess dazu kommen, dass dieses Geben weniger wird und schliesslich die Kinder mehr Unterstützung leisten müssen. Das sei kein Rollenwechsel, sondern Teil des Lebens. Und dieser könne durchaus auch schöne und wertvolle Momente beinhalten, betont Bettina Ugolini. «Es gibt eine Form von Nähe innerhalb der Beziehung, die ganz anders ist, als wenn es keine Pflegebedürftigkeit gibt. Viele Menschen sagen rückblickend, dass sie diese intensive Zeit – trotz aller Herausforderungen – als wertvoll erlebt haben.»

Hilfreicher Perspektivenwechsel
Viele Angehörige möchten ihre Liebsten so lange wie möglich selbst betreuen – aus Liebe, aber auch aus Pflichtgefühl. Doch wo liegt die Grenze zwischen Fürsorge und Überlastung? «Ein wichtiger Indikator ist, wenn die eigene Lebensqualität leidet», erklärt Bettina Ugolini. Wer selbst kaum mehr zur Ruhe kommt, sich dauernd erschöpft fühlt oder sogar körperliche Symptome wie Schlafstörungen, Rückenschmerzen oder ständige Gereiztheit entwickelt, sollte Unterstützung holen. Besonders wenn kaum noch Zeit für eigene Hobbys bleibt, soziale Kontakte vernachlässigt werden oder sich Schuldgefühle einstellen, sobald man an eine Pause denkt, ist das ein Warnsignal. Hier hilft ein Perspektivenwechsel. Wer sein Elternteil in professionelle Betreuung gibt – sei es durch eine Spitex-Unterstützung oder einen Aufenthalt in einem Alterszentrum –, übernimmt nicht weniger Verantwortung. Im Gegenteil: Man stellt sicher, dass die Eltern die bestmögliche Versorgung erhalten. «Hilfe anzunehmen bedeutet nicht, dass man aufhört, sich zu kümmern – sondern dass man dafür sorgt, langfristig für die Eltern da sein zu können», betont die Expertin.

Veränderungen gemeinsam gestalten
Eltern im Alter zu begleiten, bedeutet, sich auf Veränderungen einzulassen – und das ist nicht immer einfach. Doch wer frühzeitig ins Gespräch geht, Verständnis füreinander entwickelt und sich Unterstützung holt, kann diesen Übergang aktiv mitgestalten. «Es geht nicht darum, Kontrolle zu übernehmen oder alles allein zu stemmen», betont Bettina Ugolini. «Sondern darum, den Eltern mit Respekt und Wertschätzung zu begegnen – und gemeinsam Wege zu finden, die für alle tragbar sind.» Jede Familie muss dabei ihren eigenen Rhythmus finden. Manche Herausforderungen lassen sich gut im Dialog lösen, andere erfordern Kompromisse, und nicht immer gibt es eine ideale Lösung. Doch eines zeigt sich immer wieder: Wenn es gelingt, den Prozess bewusst und mit gegenseitigem Vertrauen zu gestalten, kann diese Lebensphase nicht nur von Abschieden, sondern auch von neuen, intensiven Momenten geprägt sein.