Zum Inhalt springen

Zeitzeugin – Mut zur Veränderung

Annemarie Eberhard ging Veränderungen schon früh mutig an. Bereits als Jugendliche schlug sie im Tanner Tobel bei Rüti immer wieder neue Wege ein – auf Froschjagd oder auf der Suche nach einem Schatz, den man bis heute nicht gefunden hat.

Sie nahm ihr Leben selber in die Hand und ging ihren Weg: Annemarie Eberhard absolvierte in Dübendorf die Lehre als Papeteristin in einer Buchbinderei. Offiziere des nahe gelegenen Militärflugplatzes gingen bei ihr ein und aus, um sich Karten zu kaufen oder Orientierungstafeln auf Metall prägen zu lassen. So entdeckte Frau Eberhard ihre künstlerische Ader und fand Zugang zur Schreibkunst. Hochwertige Papiere, wertvolle Füllfederhalter und edle Materialien schätzt sie noch heute. Die Passion fürs Haptische teilte sie mit ihrem Mann Albert, der als Tiefdrucker tätig war – ein Kunsthandwerk, das heute in der Schweiz aus Kostengründen leider nicht mehr ausgeübt wird, erklärt Frau Eberhard.

Als sie in einer Grosspapeterie in Zürich arbeitete, nahm ihr Mann eine Stelle in Rorschach an. Später rief man ihn nach Luzern. Und so kamen sie vom Zürcher Oberland über die Bodenseeregion an den Rotsee nach Luzern. Für Annemarie Eberhard war immer klar, dass sie ihren Mann überallhin begleitete. Schliesslich hätten sie es miteinander immer schön gehabt – selbst ins Ausland wäre sie ihm gefolgt. Im persönlichen Gespräch mit Annemarie Eberhard erfahren wir mehr über ihr bewegtes Leben.

Frau Eberhard, welche Veränderungen haben Ihr Leben geprägt?
Ich erinnere mich noch gut an den Ton der Bombengeschwader, die während des Weltkriegs über uns flogen. Das Feuer ennet dem Bodensee vor Augen, mussten wir die Fenster verdunkeln. Dazu nutzten wir Papier mit Pech im Innern, damit kein Licht durchscheinen konnte. Später instruierten sie uns, die Abdeckungen wieder zu entfernen, da die Bomberpiloten die Orientierung verloren und nicht wussten, über welchem Gebiet sie flogen. Nach dem Krieg hat sich das Leben nochmals komplett verändert. Für Lebensmittel wie Butter, Zucker, Schokolade oder Hörnli kriegten wir diese «Märkli» vom Staat. Ohne diese ging gar nichts. Sie waren ein rares Gut, aber wir wussten uns selber zu helfen: Da wir Teigwaren nicht so gerne mochten, tauschten wir sie in der Nachbarschaft gegen Marken für Milch. Der Umzug nach Luzern war auch prägend. Ein bisschen Mut war nötig, alles hinter sich zu lassen. Wir hatten aber immer die Gewissheit, dass die neue berufliche Herausforderung meines Mannes und der damit verbundene Umzug eine Bereicherung für uns beide sein wird. Hier hat es uns immer gefallen. Die Luzerner waren allerdings zu Beginn sehr distanziert und zugeknöpft. Es vergingen etwa drei Jahre, bis wir das Gefühl hatten, angenommen zu werden. Man darf es fast nicht sagen, aber die Fasnacht habe ich nie verstanden. Wir kannten diesen Brauch rund um den Zürichsee schlicht nicht.

Was ist nötig, um Anschluss in einer neuen Umgebung zu finden?
Offen sein für Neues, offen auf andere zugehen! Wichtig ist, selber aktiv zu werden und nicht darauf zu warten, bis andere auf einen zukommen. Ich kam oft dank meiner Offenheit durch und liess wenn nötig auch meinen Charme spielen. Das widerspiegelt sich auch hier im Tribschen: Bewohnerinnen, Besucher und auch die Pflegerinnen suchen häufig den Kontakt zu mir, um ihre Sorgen loszuwerden, ein paar Gedanken auszutauschen oder einfach, um wieder einmal herzhaft zu lachen. Ratschläge gebe ich nicht, aber ich nehme mir gerne die Zeit für ein Gespräch und habe ein offenes Ohr.

Nicht allen fällt es leicht, sich auf Unbekanntes einzulassen. Haben Sie einen Tipp für diese Menschen?
Die Angst ist ein schlechter Ratgeber. «Heitere Beck nomol» – manchmal rutscht mir ein alter Ausdruck auf «Züritüütsch» heraus –, die Gefahr, etwas zu verpassen, ist doch viel grösser, als dass etwas schieflaufen könnte! Veränderungen sind wichtig für die persönliche Weiterentwicklung. Um nicht der Routine zu verfallen, sollten Menschen Neues ohne Vorurteil auf sich zukommen lassen. Denn dann läuft wieder etwas! Erst danach, wenn sie sich darauf eingelassen haben, können sie entscheiden, ob die Veränderung in ihr Leben passt. Falls nicht, kann man ja wieder aufhören.

Wie gehen wir mit Veränderungen um, die wir nicht selbst beeinflussen können?
Nach dem Tod meines Sohnes Peter vor zwei Jahren durchlebten meine Schwiegertochter und ich eine schwierige Zeit. Peter war künstlerisch tätig und schrieb Bücher. Sibylla, seine Frau, begleitete ihn immer an die Ausstellungen. Dies fehlte ihr sehr. Sie hat danach zu ihrem früheren Hobby zurückgefunden und begann wieder zu reiten. Das zeigt: Man muss nicht immer bei Null beginnen. Manchmal ist es ratsam, sich an das zu erinnern, was einem früher schon Freude bereitete.

Was denken Sie: Mit welchen Veränderungen wird sich unsere Gesellschaft in Zukunft auseinandersetzen müssen?
Je schneller die Welt sich dreht, desto mehr beginnen wir uns zurückzubesinnen. Dann schätzen die Menschen zum Beispiel wieder schönes Papier. Ich selbst nutze hochwertiges Büttenpapier mit Wasserzeichen und schreibe Briefe mit meiner schwungvollen Handschrift. Ein von Hand beschrifteter Umschlag fällt auf und die Freude darüber ist nachhaltiger. Denn der Empfänger weiss, dass sich der Absender bewusst Zeit dafür genommen hat. Es scheint mir wichtig, dass wir Dinge etwas langsamer angehen. So entsteht ein Gegentrend zur rasanten Digitalisierung. Heute hängt alles vom Strom ab. Ich hoffe, der wird uns nicht ausgehen. Wir erlebten in Rom einmal einen Zusammenbruch. Nichts ging mehr, weder die Toilettenspülung noch die Rollläden. Nein, die digitalen Technologien sind nicht das Nonplusultra.

Die Sprache ist auch vielen Veränderungen unterworfen und entwickelt sich stets weiter. Meines Erachtens beherrschen die Jungen die Sprache gar nicht mehr richtig. Als ich einmal im Bus ein Gespräch unter Jugendlichen mithörte, habe ich die Ausdrücke nicht mehr verstanden. Wir redeten in jungen Jahren auch viel, nutzten jedoch vermehrt deutschstämmige Ausdrücke. Worte wie «Pfiffendeckel» nutze ich heute noch, wenn ich in Fahrt komme. Das ist kein Fluchwort. Wahrscheinlich stammt es vom pfeifenden Schnellkochtopf und heisst so viel wie: Jetzt aber los!

Zur Person.
Annemarie Eberhard ist 1930 geboren und wuchs in Rüti im Zürcher Oberland auf. Den eingangs erwähnten Schatz hat sie auf ihren Streifzügen im Tanner Tobel nicht gefunden. Dafür hat sie bereits mit 16 Jahren ihren zwei Jahre älteren Schatz Albert kennengelernt. Ein paar Jahre später heirateten sie und gingen 59 Jahre lang gemeinsame Wege. Nach dem Umzug an den Rotsee in Luzern kam Sohn Peter auf die Welt. Heute lebt sie im Viva Luzern Tribschen.