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Wenn plötzlich niemand mehr da ist

Einsamkeit ist für viele ältere Menschen ein grosses Thema: Ein Fünftel der befragten über 80-Jährigen in der Schweiz fühlt sich hie und da einsam. Wie kommt es dazu?

Der Verlust eines geliebten Partners, der Umzug in eine unbekannte Umgebung, fehlende zwischenmenschliche Beziehungen: Es gibt viele Gründe, die dazu führen können, dass sich jemand einsam fühlt. Wahrscheinlich haben die meisten schon solche Situationen erlebt. Zu einem Problem wird Einsamkeit dann, wenn das Gefühl über einen langen Zeitraum anhält. In solchen Fällen kann sich die Einsamkeit zu einem Teufelskreis entwickeln: «Je länger jemand einsam ist, desto grösser ist die Gefahr, dass es zu einer depressiven Erkrankung kommt», sagt Prof. Dr. phil. François Höpflinger, Soziologe der Universität Zürich. Und die Depression verstärke das Problem zusätzlich.

Ein Fünftel fühlt sich ab und zu einsam
Obwohl die Einsamkeit alles andere als ein seltenes Phänomen ist, wird in der Öffentlichkeit kaum darüber gesprochen. Besonders schwer tun sich die Direktbetroffenen, was auch daran liegt, dass Gefühle wie Scham oder Versagensängste häufig mit dem Thema einhergehen. Auch deshalb ist nicht eindeutig klar, ob Einsamkeit bei älteren Menschen in den vergangenen Jahrzehnten häufiger oder seltener wurde. «Erstens sind die Antworten zu Einsamkeitsgefühlen von der Frageform und den vorgelegten Antwortkategorien abhängig – und zweitens zeigt sich, dass sozial isolierte und zurückgezogene ältere Menschen eine Befragung eher verweigern als sozial gut integrierte Gleichaltrige», erklärt François Höpflinger. Wie vielschichtig und tiefgründig das Thema Einsamkeit ist, zeigt sich auch in den Faktoren, die dazu führen können. Zum einen gelten Krankheit, ein tiefes Einkommen sowie ein erschwerter Zugang zu Bildung als Treiber. Aber auch Intellektuelle und beruflich erfolgreiche Personen sind nicht davor gefeit. Häufig neigen diese Personen dazu, all ihre Energie in ihren Beruf zu investieren und nicht in ihre Familie oder Freunde. Nach der Pensionierung fallen sie oft in ein tiefes Loch und sind dadurch nicht selten suchtgefährdet. Auch das kann zu Einsamkeit führen. Einsamkeit hat also immer mit der Lebenslage der betroffenen Person zu tun. Dies verdeutlicht auch die 2017 durchgeführte «International Health Policy Survey»: Gut ein Fünftel der befragten 80-jährigen und älteren Personen in der Schweiz fühlt sich «hie und da» einsam. Vier Prozent gaben an, sich häufig einsam zu fühlen.

Zentrales Thema in der Beratungsstelle 
Andrea Röthlin hat täglich mit älteren Menschen zu tun. Die 51-Jährige arbeitet seit elf Jahren bei der Beratungsstelle Wohnen im Alter von Viva Luzern. Zu ihrer Aufgabe gehören unter anderem Bedarfsabklärungen bei den zukünftigen Bewohnerinnen und Bewohnern. «Einsamkeit ist ein zentrales Thema, das in unserem Alltag immer wieder auftaucht», bestätigt Röthlin. Oftmals führe der Verlust eines langjährigen Partners zur Einsamkeit. «Wenn dann noch die Kinder weit weg wohnen oder berufstätig sind und alte Freunde und Bekannte nach und nach sterben, kann dies dazu führen, dass irgendwann gar niemand mehr da ist.» Die gesellschaftliche und demografische Entwicklung trägt ebenfalls zur Problematik bei: «Manche Leute leben 30 bis 40 Jahre in der gleichen Wohnung – doch während sie bleiben, kommen rundherum immer wieder neue und andere Mieter dazu.» Nicht selten führe dies dazu, dass die Betroffenen irgendwann kaum jemanden mehr im Haus oder im Quartier kennen würden. Auch Krankheiten, der Verlust von Seh- und Hörfähigkeit oder auch die verloren gegangene Mobilität können zu Einsamkeit führen. «Während manche Senioren noch bis ins hohe Alter unterwegs sind, trauen sich andere mit zunehmendem Alter immer weniger zu.» So stelle zum Beispiel Busfahren für manche eine grosse Hürde dar. «Je weniger sich jemand zutraut, desto eher besteht die Gefahr, dass sich die Person zu Hause in ihre eigenen vier Wände zurückzieht.»

Andrea Röthlin und ihre Kolleginnen von der Beratungsstelle Wohnen im Alter erkundigen sich in ihren Beratungsgesprächen deshalb ganz gezielt nach dem Befinden der Betroffenen. «Wir fragen die Leute nach ihrem psychischen Wohlbefinden und nach ihrem sozialen Umfeld. Wenn wir den Eindruck erhalten, dass jemand unter Einsamkeit leidet, machen wir die Person auf die vorhandenen Unterstützungsangebote aufmerksam und versuchen, sie für diese zu motivieren.»

Einsamkeit hat viele Gesichter 
Auch Alinka Rüdin beschäftigt sich intensiv mit dem Thema Einsamkeit. Im Rahmen ihrer Masterarbeit (soziale Gerontologie) an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften hat die Teamleiterin Aktivierung von Viva Luzern Wesemlin und Viva Luzern Tribschen die Angebote der Stadt Luzern analysiert und sich darüber hinaus mit dem Thema Einsamkeit auseinandergesetzt. «Einsamkeit sollte auf keinen Fall mit Alleinsein verwechselt werden», betont Rüdin. Denn während manche zwar alleine, aber zufrieden sind, gibt es auf der anderen Seite Menschen, die zwar regelmässig unter Leuten sind, sich aber trotzdem einsam fühlen.

Laut Alinka Rüdin sind es häufig mehrere Faktoren, die zu dieser Entwicklung führen können. Hochaltrigkeit ist einer davon. «Viele unserer Bewohnerinnen und Bewohner sind schon weit über 90 Jahre alt. Die meisten haben kaum mehr Freunde – sei es, weil diese längst verstorben sind oder weil sie sich in einer anderen Pflegeinstitution befinden.» Auch die Erkenntnisse, dass die eigenen körperlichen und kognitiven Fähigkeiten zunehmend nachlassen, können dazu beitragen, dass sich manche Betroffene nach und nach zurückziehen würden.

Die Coronapandemie verschärft das Problem
Auch die Coronapandemie hatte einen Effekt auf das Einsamkeitsempfinden vieler Menschen. Während viele die erste Welle noch gut überstanden hatten, schien besonders die zweite Welle im Herbst bzw. Winter 2020 ihre Spuren zu hinterlassen. «Von der Pandemie und ihren sozialen Folgen besonders negativ betroffen sind speziell sozial isolierte ältere Menschen oder ältere Personen mit alltagsrelevanten Vorerkrankungen», sagt der Soziologe François Höpflinger. Die zweite Welle habe die Gefühle von Ausgeschlossenheit und sozialer Isolation verstärkt. So äusserten im November 2020 signifikant mehr ältere Befragte (65+) im Rahmen des Covid-19-Social-Monitoring häufige Gefühle von Isolation und fehlender sozialer Kontakte als in den Sommermonaten (Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften 2021). Diese Aussage bestätigt auch Andrea Röthlin von der Beratungsstelle Wohnen im Alter von Viva Luzern: «Wir haben Leute bei uns, die über ein Jahr lang niemanden mehr persönlich getroffen haben.»

Manchmal reicht ein freundliches «Grüezi» 
Eine entscheidende Rolle bei der Bewältigung der Einsamkeit spiele das persönliche Umfeld der Betroffenen. «Eine bedürfnisorientierte Tagesstruktur und ein angemessenes soziales Umfeld tragen erheblich zum Wohlbefinden bei», sagt Alinka Rüdin. Neben den Familienangehörigen würden dabei auch Freunde als Vertrauenspersonen eine wichtige Rolle übernehmen. Alinka Rüdin weiss, dass Einsamkeit bei vielen Bewohnenden von Viva Luzern ein Thema ist. «Manchmal merken wir, dass sich jemand allmählich zurückzieht und immer mehr in sich gekehrt ist. In diesem Fall versuchen wir, die Betroffenen im Rahmen unserer Möglichkeiten anzusprechen und Massnahmen zu planen.» Darüber hinaus könne jeder und jede einen Beitrag zur Verkleinerung der Einsamkeit im Alltag leisten: «Manchmal reicht es schon, mit offenen Augen durchs Leben zu gehen und die Nachbarn freundlich zu grüssen.» Es brauche nicht immer grosse Taten. «Ein liebes Wort oder ein freundlicher Gruss kann zu positiven Gefühlen verhelfen.»


Wir danken unseren Interviewpartnerinnen und -partnern
Prof. Dr. phil. François Höpflinger, Soziologe der Universität Zürich | Andrea Röthlin, Beratung Wohnen im Alter Viva Luzern | Alinka Rüdin, Teamleiterin Aktivierung Viva Luzern Wesemlin und Viva Luzern Tribschen