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Vergessen können ist ein Geschenk

Was bedeutet es im Alter, sich erinnern zu können? Und wie geht man mit dem Vergessen um? Wir unterhalten uns mit zwei Bewohnerinnen. Über ihr Erleben, Erfahren, Erinnern. Und den Umgang damit. Beide meinen, bewusst vergessen und loslassen zu können, sei ein Geschenk.

Ottilia Fornara (93), Bewohnerin Viva Luzern Dreilinden
«Diese Swarovski-Katze schenkte mir meine Tochter, als ich wegen einer Blinddarmoperation im Spital lag», erinnert sich Ottilia Fornara. Behutsam stellt sie das Kristalltierchen zurück in die Vitrine zu all den anderen schmucken Kleinigkeiten. Die Vitrine birgt viele Erinnerungsstücke. Sie erzählen von Reisen in ferne Länder, von Einladungen bei lieben Menschen, von geselligen Runden an stilvoll gedeckten Tischen. Von einem langen und erfüllten Leben.

Schweres einfach loslassen
Eines, das Ottilia Fornara seit letztem Jahr im Viva Luzern Dreilinden geniesst. Hierherzuziehen war ein ganz bewusster Entscheid. «Dafür muss man im Kopf bereit sein», erklärt Ottilia Fornara. «Eines Tages war der Moment da, in dem ich spürte, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen ist. Mir behagt es hier. Ich muss nicht mehr kochen, mich nicht um den Haushalt kümmern, darf meine Wünsche anbringen und sie werden erfüllt – das Paradies.» Dass sie ausgewählte Möbelstücke und Fotos gezügelt habe, helfe, sich hier zu Hause zu fühlen. Es sind Gegenstände, mit denen sie viele Geschichten verknüpft. Ottilia Fornara erinnert sich gerne. Und zwar an alles Erlebte. Natürlich habe sie auch fordernde Momente durchlebt, habe früh auf eigenen Beinen stehen müssen. Doch sie ging unbeirrt ihren Weg, stand für sich ein. «Manchmal muss man etwas die Ellbogen ausfahren und ‹gwehrig› sein im Leben», schmunzelt sie. Wenn etwas nicht funktioniert hat, suchte sie nach einer anderen Lösung. «Das Schwere über die Schulter werfen und loslassen lautet meine Devise. Ausserdem macht es stark, wenn man kämpfen lernt», ist Ottilia Fornara überzeugt.

Von ihrem beruflichen Weg zeugt eine Schachtel, in der zahlreiche Zeugnisse, Ausbildungsdokumente, gar ein Pressebericht über ihre Anstellung bei der VBL lagern. «Meine Tochter räumte meine Wohnung und brachte mir die Unterlagen mit den Worten, das sei eine wahre Wundertüte und ich müsse sie unbedingt zu mir nehmen.» Ihre Tochter ist die wichtigste Person in ihrem Leben.

Natürlich neben den Kindern ihres Ehemannes Primo, der im Jahr 2011 verstarb. «Es vergeht kein Zusammentreffen, an dem wir uns nicht an Primo erinnern und uns gegenseitig Geschichten erzählen.» Natürlich sei es traurig, dass er nicht mehr physisch an ihrer Seite sei. Doch sich an so viele schöne gemeinsame Jahre erinnern zu dürfen, sei ein Geschenk. «Und auf eine Art ist er noch immer hier bei mir. Ich unterhalte mich oft mit ihm.» Ja, Primo ist präsent in ihrem Leben, in ihrem Herzen und auf vielen Fotos, die in ihrem Zimmer stehen.

Erinnerungsstücke des Herzens: Das Hochzeitsporzellan von Ottila Fornara und ihrem Mann.

Gedanken formen das Leben
Erinnerungen sind für Ottilia Fornara etwas Schönes: «Ich kann glücklich zurückschauen. Denn ich sehe auch, welchen Weg ich gegangen bin, welche Hürden ich gemeistert habe.» Über den Moment, an dem vielleicht einmal das Vergessen einsetzt, mag sie noch nicht nachdenken. Stand heute sei es eher so, dass sie sich an viel mehr erinnere als noch vor ein paar Jahren. Natürlich sei sie auch schon im Bad gestanden und habe im ersten Moment nicht mehr gewusst, was sie da eigentlich wollte. «Ich habe gegoogelt, mich informiert und gelesen, dass das auch jüngeren Menschen passiert. Danach konnte ich den Moment wieder beiseitelegen.» Es bringe nichts, sich in der Angst zu verlieren. Ottilia Fornara ist überzeugt, dass Gedanken das Leben formen. Weshalb sie ihr Denken lieber in eine positive Richtung lenkt. Während sie das sagt, wandert ihr Blick zu ihrer Armbanduhr.

Speichern, was relevant ist
Es ist bald Mittagszeit. Bevor wir uns verabschieden, will Ottilia Fornara mir noch die Terrasse zeigen und mit mir den Weitblick zum See, in die Berge teilen. Auf dem Pilatus war sie unzählige Male. Mit ihrem geliebten Primo. Während sie davon erzählt, breitet sich ein sanfter Ausdruck, mit viel Dankbarkeit verbunden, auf ihrem Gesicht aus. «Den Speisesaal müssen Sie auch noch sehen», sagt sie und weist mir den Weg. Welches Mittagsmenü sie sich für heute ausgesucht habe, will ich wissen. Daran könne sie sich jetzt gerade nicht erinnern. Das sei auch nicht wichtig, schmunzelt sie. «Ich speichere nur, was mir relevant erscheint. Nebensächliches lasse ich los. Ich will schliesslich nicht mit Ballast durch die Welt gehen.» Sagts und schreitet voran mit aufrechtem Gang.

Ottilia Fornara mit Pflegefachfrau Viva Luzern Dreilinden
«Hier im Viva Luzern Dreilinden sind alle so lieb – ich fühle mich wunderbar aufgehoben.»
Ottilia Fornara, Bewohnerin Viva Luzern Dreilinden
«Von meinem Lieblingsplätzchen im Park aus grüsse ich jeden, der vorbeiläuft.»

Hermina Bürli, Bewohnerin Viva Luzern Dreilinden
Das Erste, was auffällt, als Hermina Bürli mir die Tür zu ihrem Zimmer öffnet, sind ihr wacher Blick und der freundliche Ausdruck in ihrem Gesicht. Das Zweite? Die spektakuläre Aussicht auf den See und in die Berge. «Es sieht fast aus wie im Tessin. Für mich fühlt sich hier jeder Tag an wie Ferien», schwärmt Hermina Bürli. Sie wohnt im Viva Luzern Dreilinden und ist überzeugt, dass sie es besser nicht hätte treffen können. Luzern sei ihre Heimat, obwohl sie in Zell geboren und aufgewachsen sei, erzählt sie. Bereits stecken wir mittendrin im Erinnern. Für einen kurzen Moment bloss. Und dann meint Hermina Bürli mit einem Lächeln: «Warum soll ich denn in Erinnerungen leben, wenn es hier und jetzt so prächtig ist?»

Vergessen ist Teil des Erlebens
Eigentlich vergesse sie vieles und könne Fragen manchmal nicht unmittelbar beantworten. Doch wenn sie dann alleine sei, würden ihr die Antworten einfallen und innere Bilder mit einem Mal auftauchen. Ihr Gesicht strahlt Wachheit aus, während sie von ihren Erfahrungen spricht, aus ihrem Leben erzählt. Ein Gesicht, das viele Geschichten birgt: heitere, amüsante, verschmitzte und solche, die nachdenklich stimmen. Doch Hermina Bürli hat einen Umgang damit gefunden: annehmen und akzeptieren, was ist. So handhabt sie es auch mit den Menschen, die ihr in ihrem langen Leben schon begegnet sind. «Menschen nehme ich, wie sie sind. Jeder hat seine Geschichte, und ich halte es für wichtig, jeden so zu akzeptieren, wie er ist», betont sie.

Nach vorn blicken und im Moment leben
Ihre Erzählungen sind lebhaft, bunt. Gelegentlich entfallen ihr beim Erzählen Worte. Dann behilft sie sich mit einer passenden Umschreibung und begegnet den Lücken mit Gelassenheit. «Das passiert ja nicht nur älteren Menschen», stellt sie schmunzelnd fest. Sie findet vergessen nicht schlimm. Im Gegenteil: Vergeben und Vergessen begleiten sie durch ihr Leben. «Ich kläre Dinge, wenn sie anstehen, und dann ist es erledigt. So lebe ich ohne Ballast und blicke nach vorn, lebe ganz im Moment», fügt sie entschieden hinzu. Auch deshalb fiel es ihr leicht, viele materielle Dinge zurückzulassen, als sie im Viva Luzern Dreilinden einzog. Natürlich besitzt sie Fotos vergangener Tage. Sie sieht sie sich jedoch nie an. Die Erinnerungen sind im Herzen gespeichert.

Dass mit dem Älterwerden eine gewisse Vergesslichkeit einhergeht, nimmt sie gelassen. «Das bereitet mir keine Sorgen. Ich nehme es, wie es kommt.» Wahrscheinlich trage auch das Wohlgefühl zu dieser Gelassenheit bei. Denn Hermina Bürli ist zufrieden in ihrem aktuellen Zuhause. «Hier öffnete sich mir eine neue Welt. Alle Mitarbeitenden sind freundlich und hilfsbereit. Ich finde Menschen zum Reden, wenn mir danach ist. Ganz ehrlich: Ich hätte nie gedacht, dass ich im Alter an einem so schönen Ort sein darf. Das macht mich richtig glücklich.»

  • Mehr als eine Lücke im Gedächtnis
    Erinnern und Vergessen formen unsere Identität. Erinnerungen bewahren unsere Vergangenheit, während das Vergessen Platz für Neues schafft. Eine symbiotische Beziehung, die uns ermöglicht, uns in der Gegenwart zu entfalten und unser Denken weiterzuentwickeln.
  • Erinnern und Vergessen sind faszinierende Aspekte unseres menschlichen Daseins. Erinnerungen dienen als Fenster in die Vergangenheit, bewahren unsere Erlebnisse, Emotionen und Erkenntnisse. Doch das Vergessen spielt eine genauso wichtige Rolle. Es erlaubt uns, Unwichtiges auszusortieren und Raum für Neues zu schaffen. Es befreit und ermöglicht uns, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Ausserdem hilft es, das Denken weiterzuentwickeln. Vergessen ist kein Verlust, sondern eine Notwendigkeit. Die Wechselwirkung zwischen Erinnern und Vergessen formt unsere Identit