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Der Reiz der Ferne

Wer eine längere Reise antritt, kennt das Gefühlschaos zwischen Neugier und Nervosität. Nicht so Werner Nüssli, Bewohner Viva Luzern Rosenberg: Mit 20 Jahren packte er entschlossen seinen Koffer. Sein Plan? Etwas zu erleben!

Da standen sie an der Reling eines Frachtschiffs in Antwerpen, das neben der Fracht noch Platz bereithielt für ein paar wenige Mitreisende. Werner Nüssli ahnte noch nicht, dass sein Begleiter – ein Schulkollege – die Reise in Bordeaux wird abbrechen müssen. Die Seekrankheit verunmöglichte eine Weiterreise. So machte sich Werner Nüssli allein auf Richtung Gold Coast Colony, dem heutigen Ghana in Westafrika. Drei Wochen später hatte er wieder festen Boden unter den Füssen und kam in der Küstenstadt Accra an. 

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Perspektiven in der Schweiz für frisch ausgebildete Berufsleute klein. «Man konnte nicht nur in der Schweiz bleiben. Hier waren wir ein wenig gefangen», schildert Werner Nüssli. Er meldete sich bei der Union Trading Company in Basel an und startete seine Karriere in der Handelsabteilung. Sein Wissensdurst war so gross, dass er täglich Englischunterricht nahm. Kaum in Ghana angelegt, musste er jedoch feststellen, dass er mit seinem englischen Wortschatz nicht weit kam. Auf die einheimische Sprache antwortete er zu Beginn mit «Sabi Box», was so viel hiess wie «es will nicht in meinen weissen Kopf». Er liess sich nicht entmutigen und nahm kurzerhand einen Sprachkurs. Mit seinen Mitarbeitenden verständigte er sich in einem Sprachenmix aus Englisch, Französisch und der Landessprache.

Arbeiten in der britischen Kolonie
Die Union Trading Company war in vielen Ländern Westafrikas präsent und beschäftigte Tausende von Arbeitnehmenden. Werner Nüssli war in der Hauptstadt von Ghana, in Accar, stationiert. Neben 30 anderen Personen hatte er eine Führungsfunktion über ein paar Hundert Mitarbeitende inne. Von dort aus belieferten sie das ganze Land mit Produkten aus verschiedenen Branchen. Sein Departement vertrieb Eisenwaren, Werkzeuge und Maschinen an die lokalen Geschäfte.

«Ghana stand damals unter britischer Kolonialherrschaft. Als Schweizer konnten wir uns aber frei bewegen und arbeiten», erklärt er. Fachkräfte aus dem Ausland wie Werner Nüssli standen damals unter 2-Jahres-Verträgen. Danach konnten sie einen viermonatigen Urlaub zu Hause geniessen. Auch wenn das neue Unbekannte die Sehnsucht nach Heimat überwog, waren diese Urlaube jeweils ein Lichtblick. «Als junger Mensch hat es mir in diesen grossen Städten sehr gefallen», erinnert er sich. «Es war zu dieser Zeit nicht üblich, dass man als junger Typ diese Möglichkeit hatte. Wir erlebten so vieles: die Ausflüge mit den Jeeps in den Urwald, die Beobachtungen der Affen und Schlangen, die Übernachtungen in einem Holzfäller-Camp.» Doch einmal erkrankte er an Malaria und verbrachte 14 Tage im Spital von Accra. «Diese Krankheit plagte mich. Da hatte ich Zeit zum Nachdenken und vermisste das Zuhause in der Schweiz schon ein wenig.»

Volksmusik und Käse gegen die Sehnsucht
In diesen Momenten nahm er seine Hermès-Schreibmaschine hervor und schrieb seiner Familie einen Brief. Manchmal dauerte es zwei Wochen, bis der Brief in der Schweiz ankam. Aber so blieb er mit seinen Lieben zu Hause in Kontakt. Überhaupt wussten Herr Nüssli und seine Schweizer Kollegen sich immer zu helfen, wenn einmal die Sehnsucht nach der Heimat aufkam und Lust auf Käse und Schokolade weckte. «Unsere Firma hatte immer ein gutes Lager mit Schweizer Nahrungsmitteln. Jeden Monat organisierte jemand von uns die Zutaten für ein typisches Essen. Ein lokaler Koch, der sein Handwerk bei einem deutschen Gouverneur erlernte, bekochte uns. Wir zeigten ihm, wie man eine richtige Rösti zubereitete – das kriegte er gut hin. An diesen Abenden klopften wir dann öfters einen Jass und hörten uns Schweizer Volksmusik auf einem Grammofon an. Manchmal wohnte auch jemand unter uns, der Handorgel spielen konnte und so ein wenig Heimatgefühl versprühte.»

Von der Schweiz in die Welt hinaus
Nach sechs Jahren in der Ferne wurde der Wissensdurst wieder grösser und Werner Nüssli zog nach Paris, um Französisch zu lernen. Zurück in der Schweiz, gründete er zusammen mit seiner Frau eine Familie und liess sich in Arbon nieder. Der Entdeckungsdrang liess aber nicht nach. So reiste er geschäftlich in die USA, nach Deutschland, Holland und England und knüpfte auch dort wieder viele neue Kontakte. Sein Rezept, sich alleine auf Reisen durchzuschlagen: «Neugier und Offenheit sind schon eine Bedingung. Jedes Land ist mit all seinen Vor- und Nachteilen interessant. Manchmal trifft man auf gesellige Menschen, manchmal auf etwas spezielle Typen mit anderen Hintergründen.» Und wie kriegte er Familie, Freunde und Geschäft unter einen Hut? Die Freundschaften unterwegs hätten sich auf die geschäftlichen Kontakte beschränkt. «Nahe, vertraute Menschen begann ich dann schon ein wenig zu vermissen. Ich kam gerne nach Hause und freute mich auf die beiden kleinen Kinder», blickt Werner Nüssli zurück und kommt zum Schluss, dass wenige, dafür gute Freundschaften viel wertvoller sind als viele flüchtige Bekanntschaften.

Zur Person

Werner Nüssli ist 1924 geboren und wuchs zusammen mit zwei Schwestern in Gossau SG auf. Nach der kaufmännischen Ausbildung arbeitete er mehrere Jahre für die Union Trading Company im Ausland. Nach der Heirat und der Geburt seiner Kinder kehrte er in die Ostschweiz zurück und nahm eine Stelle bei Saurer in Arbon an. Für den Nutzfahrzeug- und Textilmaschinenhersteller reiste er häufig ins Ausland. Mit 50 Jahren kam er nach Luzern, um für die Flugzeugwerke in Emmen tätig zu sein. Heute lebt er im Viva Luzern Rosenberg.