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«Ich bin bis heute ein Sozi geblieben.»

Sergio Tognacca hat aus dem Zugführerstand die ganze Schweiz entdeckt. Neben seiner Leidenschaft für die Eisenbahn hat der 88-Jährige immer auch ein grosses Herz für seine Mitmenschen.

Als die Luzerner Stimmbevölkerung 2005 mit einer Mehrheit von 85 Prozent zustimmte, das Haus Rubin für 28 Millionen Franken zu erneuern, war Sergio Tognacca als SP-Grossbürgerrat mittendrin im politischen Geschehen. Mittlerweile bewohnt der 88-Jährige selber ein Zimmer im Viva Luzern Eichhof. Auch wenn er es heute ruhiger angehen lässt, denkt er gern an sein ereignisreiches Leben zurück.

Herr Tognacca, Sie sind im Misoxtal geboren und in der Nähe von Bellinzona aufgewachsen. Was hat Sie in die Deutschschweiz geführt?

Die Arbeit. Ursprünglich habe ich Schreiner gelernt. Weil es im Tessin wenig Stellen gab, rieten mir meine Eltern, mich neu zu orientieren. So kam es, dass ich mit 23 Jahren nach Zürich zog. Dort arbeitete ich zunächst in der Gepäckverteilung am Hauptbahnhof, ehe ich etwas später die Ausbildung zum Kondukteur absolvierte.

Der Eisenbahn sind Sie anschliessend bis zum Ende Ihres Berufslebens treu geblieben

Und sogar darüber hinaus. Ich denke heute noch mit Freude an meine Arbeit zurück und träume regelmässig von der Eisenbahn. Nach einigen Jahren als Kondukteur erhielt ich die Chance, mich mit 33 in Luzern zum Zugführer weiterzubilden. In den folgenden Jahren sah ich die ganze Schweiz.

Hatten Sie eine Lieblingsstrecke?

Die Fahrt über den Brünig hat mich immer wieder aufs Neue fasziniert. Aber auch sonst genoss ich es, unser Land vom Führerstand aus zu entdecken. Obwohl der Beruf auch strenge Seiten hatte – ich denke zum Beispiel an die unregelmässigen Arbeitszeiten, an Sonntags- und Nachtarbeit –, möchte ich keinen Moment davon missen.

Neben Ihren beruflichen Verpflichtungen engagierten Sie sich auch politisch. Wie kam es dazu?

Das eine führte zum andern. Ich engagierte mich bereits bei den SBB in der Gewerkschaft und setzte mich für die Rechte der Arbeitnehmenden ein. Irgendwann fragte mich der frühere SP-Nationalrat Toni Muheim, ob ich für die SP für den Grossbürgerrat der Stadt Luzern kandidieren möchte. Ich sagte zu – und wurde prompt gewählt. Am Ende war ich neun Jahre im Grossbürgerrat tätig.

Woher kommt Ihr Interesse für die Politik?

Ich bin in einer politischen Familie aufgewachsen. An unserem Esstisch wurde schon immer viel diskutiert. Bemerkenswert ist, dass meine Eltern beide freisinnig waren …

Ganz im Gegensatz zu Ihnen

Ich fühlte mich schon immer als Linker. Und ich bin bis heute ein «Sozi» geblieben. Gleichzeitig habe ich aber immer die Meinungen anderer Leute respektiert. Die anderen Politiker sind nicht falsch, sie sind nur anderer Meinung. Nur wenn man Kompromissbereitschaft mitbringt, kommt man ans Ziel. Das zeigte sich nicht zuletzt bei grossen Bauprojekten wie dem Umbauprojekt des Hauses Rubin, das ich als Grossbürgerrat begleiten durfte.

Das Stimmvolk sagte im Sommer 2005 Ja zu diesem Projekt. Welche Erinnerungen haben Sie an jene Zeit?

Das Projekt gab natürlich viel zu reden. Und im Nachhinein hätte man bei der Planung wohl einiges besser machen können. Ich denke zum Beispiel an die Toiletten, die nicht ideal konzipiert waren. Im Laufe der Jahre konnten solche Mängel aber zum Glück korrigiert werden. Als Bewohner fühle ich mich heute sehr wohl hier

Gab es Themen, die Ihnen als Politiker besonders am Herzen lagen?

Am liebsten engagierte ich mich für Kinder und Jugendliche. Während rund 20 Jahren organisierte ich ein Skilager für «Arbeiter-Kinder» aus Luzern. Zudem war ich neun Jahre in der Einbürgerungskommission. Neben meinem Engagement im Grossen Bürgerrat war ich Präsident der SP-Sektion Ticino in Luzern. Zudem war ich rund 15 Jahre als freiwilliger Helfer der Reformierten Kirche tätig.

Zugführer, Politiker, Familienmensch: Sergio Tognacca blickt auf ein ereignisreiches Leben zurück.

Welche Dinge waren Ihnen – neben Arbeit, Familie und Politik – sonst noch wichtig?

Eine grosse Leidenschaft war der Sport. Ich war Mitbegründer des Eisenbahner Sportvereins Luzern, der übrigens heute noch existiert. Als ich in Zürich lebte, spielte ich beim FC Blue Stars als Goalie in der 1. Liga. Hätte ich mir in einem Match gegen Schaffhausen nicht den Kiefer gebrochen, wäre ich vielleicht sogar in der Nati B angetreten.

Wo haben Sie Ihre Frau kennengelernt, mit der Sie später drei Töchter hatten?

Das war an einem Konzert des Männerchors des Eisenbahnpersonals. Noch heute bin ich meinem Kollegen dankbar, der mich zu diesem Anlass mitgenommen hat. Meine Frau verstarb im vergangenen Sommer; sie fehlt mir sehr. Wir sind bis am Schluss sehr gut miteinander ausgekommen.

Gab es nie Krach?

Aber natürlich, das gehört doch dazu. Wichtig ist, dass man sich nach einem Konflikt wieder aussprechen und versöhnen kann. Das haben wir immer geschafft. Ein Punkt, der immer mal wieder zu Streit führte, war die Tatsache, dass ich so oft weg war. Ob im Sport, in der Politik oder beruflich: Ich war immer fort.

Bereuen Sie manchmal, dass Sie so viel (ehrenamtlich) gearbeitet haben?

Im Gegenteil: Ich bin froh, dass ich so viel gemacht habe. Ich durfte im Laufe meines Lebens viel lernen und noch mehr tolle Menschen kennenlernen. Natürlich habe ich im Laufe der Zeit auch Fehler gemacht – aber das gehört zu einem Leben. Wer behauptet, keine Fehler zu haben, ist ein «Blöffer».

Sie leben seit über einem halben Jahrhundert in der Deutschschweiz. Wie nahe ist Ihnen das Tessin noch?

Sehr nahe. In meiner Brust schlagen definitiv zwei Herzen – eines für das Tessin und eines für die Deutschschweiz. Und das wird auch bis zum Schluss so bleiben.

Zur Person

  • Sergio Tognacca ist mit seiner Schwester in Sementina bei Bellinzona aufgewachsen. Im Alter von 23 Jahren zog Tognacca nach Zürich, wo er bei den Schweizerischen Bundesbahnen eine Anstellung fand. Einige Jahre später absolvierte er in Luzern die Ausbildung zum Zugführer. Hier lernte er auch seine Frau Gilberte kennen, mit der er 56 Jahre verheiratet war. Als die Luzerner Stimmbevölkerung 2005 Ja zur Erneuerung des Hauses Rubin sagte, war Tognacca als Grossbürgerrat für die SP in das Geschäft involviert. Tognacca hat drei Töchter – zwei leben mit ihren Familien in der Region, eine ist nach Südafrika ausgewandert.